Stückinfo

Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg
Musik von Claude-Michel Schönberg
Texte von Richard Maltby, Jr. und Alain Boublil
Adaptiert aus dem französischen Originaltext von Alain Boublil
Deutsche Übersetzung Heinz Rudolf Kunze

Der amerikanische GI Chris verliebt sich während seiner Stationierung in Saigon in die Nachtclubtänzerin Kim. Ihre Liebesbeziehung wird jäh unterbrochen, als der Vietcong die Stadt erobert und alle amerikanischen Soldaten abgezogen werden. Zurück bleibt Kim, die einige Zeit später ihren Sohn Tam zur Welt bringt. In seiner Heimat versucht Chris, das Trauma des Krieges sowie den Verlust seiner „Miss Saigon“ zu verarbeiten, indem er eine andere Frau heiratet. Als er jedoch erfährt, dass Kim ihm einen Sohn geboren hat, macht er sich mit seiner Frau Ellen auf die Suche nach Mutter und Kind. Als Kim erkennt, dass es für sie keine gemeinsame Zukunft mit ihrem ehemaligen Geliebten in Amerika geben kann, begeht sie Selbstmord. Zumindest für Tam soll sich so ihr amerikanischer Traum verwirklichen.

Mit Miss Saigon gelang dem französischen Autoren- und Komponistenduo Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg nach Les Misérables ein zweiter Welthit. Überall waren die Zuschauer und Kritiker begeistert, nicht nur wegen der aufwändigen Bühneneffekte, sondern auch wegen des zeitkritischen Aspekts, der spannenden Handlung und den psychologisch genau ausgearbeiteten Charakteren.

Schönbergs Musik changiert zwischen romantischen Pop-Songs und großen, dramatischen Ensembleszenen. Darüber hinaus verleihen ungewöhnliche Instrumente, wie chinesische Gongs, Temple Blocks oder Glocken, der durchkomponierten Partitur das besondere exotische Kolorit. Musikalisch innovativ, psychologisch detailgenau, theaterwirksam und zeitnah sind die passenden Attribute, die Miss Saigon zu einem der Meisterwerke des Genres Musical machen.

Medien

(Produktionsfotos: Toni Küng)

Leitungsteam

Musikalische Leitung
Christoph Wohlleben
Regie
Matthias Davids
Choreografie
Dennis Callahan
Bühne
Hans Kudlich
Kostüme
Noelle Blancpain

Darsteller

Kim
Ruby Rosales
Chris
Jesper Tydén
Engineer
James Sbano
John
Michael Kelley
Ellen
Eva Aasgaard
Thuy
Kok-Hwa Lie
Gigi
Lanie Sumalinog
Ensemble
Rico Villavert
Ensemble
Isabel Dan
Ensemble
Anna Koch
Ensemble
Jessica Huber
Ensemble
Anna Helsby
Ensemble
Patricia Opel-Portune
Ensemble
Damo
Ensemble
James de Groot
Ensemble
Sinaroth-Jonathan Huor
Ensemble
Jason Jones
Ensemble
Jerôme Knols
Ensemble
Láslò Pekár
Ensemble
Filip van Praet
Ensemble
Philip Ranson
Ensemble
Pascal Séraline
Ensemble
Jojo Urquico
Ensemble
Radovan Vagac

Presse

Hervorragend gelungen: die erste freie deutschsprachige Inszenierung des Boublil/Schönberg-Musicals

In St. Gallen war ein Regisseur am Werk, der das Stück nicht nur in- und auswendig kennt, sondern der es augenscheinlich sehr liebt. Matthias Davids ergründet jede Nuance der Liebe zwischen Kim und Chris, und selbst als sie nicht mehr beieinander sind, lässt er die Erinnerung daran in ihren Gesichtern aufscheinen. Außerdem hat Davids all die Szenen entkitscht, in denen Gefühlspathos und asiatische Lotusblüten-Niedlichkeit bisweilen überzuschwappen drohten. (...) Das Ergebnis wirkt jedenfalls glaubhafter als in Stuttgart. (...) Die erste freie deutschsprachige Inszenierung des Musicals steht der deutschen Erstaufführung keinen Deut nach. Eigentlich ist sie besser.

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musicals  das Musicalmagazin

April 2003

Miss SaigonHervorragend gelungen: die erste freie deutschsprachige Inszenierung des Boublil/Schönberg-Musicals

von Angela Reinhardt

Es gibt keinen Hubschrauber und keine Monumental-Aufmärsche, keinen weißen Cadillac und keine Ho-Chi-Min-Statue. Was man zunächst für eine Beeinträchtigung halten könnte – die kleineren Bühnenausmaße und die weniger aufwendige Maschinerie eines Repertoire-Theaters -, das entpuppt sich schnell als der große Vorteil dieser Inszenierung. Im St. Gallener Theater sitzt man nämlich wesentlich näher an den dramatischen Bühnenereignissen dran, was dem Vietnam-Musical eine hoch spannende Intensität verleiht und die Aufmerksamkeit auf das Drama der einzelnen Personen lenkt.

Der Original-Regisseur Nicholas Hytner möge verzeihen, aber so völlig neu einstudiert und auf die jeweiligen Darsteller abgestimmt erhält dieses Musical eine ganz andere Eindringlichkeit, als wenn die fünfte oder sechste Besetzung etwas nachspielt, was für andere Schauspieler entwickelt wurde. Die erste freie deutschsprachige Inszenierung des Boublil/Schönberg-Musicals steht der deutschen Erstaufführung keinen Deut nach. Eigentlich ist sie besser.

In St. Gallen war ein Regisseur am Werk, der das Stück nicht nur in- und auswendig kennt, sondern der es augenscheinlich sehr liebt. Matthias Davids ergründet jede Nuance der Liebe zwischen Kim und Chris, und selbst als sie nicht mehr beieinander sind, lässt er die Erinnerung daran in ihren Gesichtern aufscheinen. Außerdem hat Davids all die Szenen entkitscht, in denen Gefühlspathos und asiatische Lotusblüten-Niedlichkeit bisweilen überzuschwappen drohten – zum Beispiel die kichernde Hochzeitszeremonie. Kims Selbstmord hat nichts mehr von einem Ritual, sondern geschieht aus purer Verzweiflung; Chris schreit am Schluss nicht laut auf, sondern weint nur verstört vor sich hin. Ob es an den beiden Hauptdarstellern liegt oder an der einfühlsamen und auf Natürlichkeit Wert legenden Personenregie – das Ergebnis wirkt jedenfalls glaubhafter als in Stuttgart. Bis zu den lichtbraunen Haaren von Klein-Tam stimmt hier einfach jedes Detail.

Ruby Rosales erfüllt als Kim nicht einfach das Klischeebild von der asiatischen Kindfrau, sondern sie entwickelt eine ruhige, starke, fast herbe Persönlichkeit. Nicht einen Moment gleitet sie in diesen kulleräugigen Püppchen-Charme ab, sie lässt auch beim Singen die Schluchzer und die Ausflüge ins mädchenhaft feine Stimmchen weg.

Ob es Absicht ist oder nicht – Jesper Tydén spielt den Chris am Anfang ein wenig abwesend und naiv. Zu naiv für Vietnam, was seine spätere seelische Verwundung erklären würde. Am Schluss aber stolpert er nicht unschuldig durch die tragischen Ereignisse, sondern realisiert ganz klar, was er Kim durch seine amerikanische Heirat angetan hat. Während diese beiden deutlich und klar artikulierend singen (wodurch umso stärker auffällt, wie unbeholfen Heinz Rudolf Kunzes Verse doch manchmal klingen), stört beim Rest der komplett nichtdeutschen Besetzung der Akzent einiger Darsteller ganz enorm – aber das ist ja bei ´Miss Saigon´ nichts Neues.

Natürlich trifft James Sbano als Chef im Ring das Schmierige, Raffinierte dieses Überlebenskünstlers wunderbar, nur leider weiß man über weite Strecken hin nicht, was er da eigentlich von sich gibt. Auch bei Michael Kelleys John muss man sich fragen, ob eine tolle Stimme in „Bui-Doi“ eine derart unsaubere Diktion wirklich rechtfertigt. Der Rolle von Thuy verleiht der ansonsten tadellose Kok-Hwa Lie mit seinem holländischen Akzent eine ganz eigene Note. Mit astreinem Deutsch dagegen gewinnt Eva Gullvåg Aasgaard der undankbaren Rolle der zweiten Ehefrau ein sehr bestimmtes, klares Porträt ab. Das relativ kleine Musicalensemble wird durch den Opernchor und die Statisterie auf eine bühnenfüllende (und abolut homogene) Menge verstärkt. Der Stuttgart-erprobte Dirigent Christoph Wohlleben hat die musikalische Dramatik fest im Griff.

Die gesamte Aufführung spielt im Stahlgerippe eines abgestürzten amerikanischen Flugzeugs, das auf einer Drehbühne steht und so von allen Seiten bespielbar ist. Der Nachtclub, Kims Zimmer, die Straßen von Bangkok und das Hotelzimmer – alle diese Bilder sind umgeben von Verfall und Kriegsruinen. Der technische Ablauf funktioniert perfekt und die Aufführung ist in vielen Szenen hoch dramatisch, gerade auch beim Fall der Botschaft in Saigon. Hier arbeiten Davids und sein Bühnenbildner Hans Kudlich mit Metallzäunen, die immer wieder anderswo aufgebaut werden. Die Soldaten werden mit Strickleitern in die (nur hörbaren) Hubschrauber geholt. Zum „American Dream“ umtanzen schnulzige Elvis Presleys die riesige Fackel der Freiheitsstatue, dazu wird die New Yorker Konfettiparade angedeutet. Den Amerika-Kitsch dieser Szene hat Dennis Callahan ebenso treffend (und durchaus anders als Bob Avian in London) in Choreografie übersetzt wie die marschierenden Vietnam-Soldaten. Noelle Blancpains Kostüme bestechen vor allem durch die Vielfalt, mit der sie von Polyester-Hemden bis zu indischen Kleidern die siebziger Jahre wieder aufleben lässt – einzig die weiße Popeye-Hose von Chris sieht etwas lustig aus.

Auch diese Neuinszenierung bestätigt auf gloriose Weise die These, dass ein gutes Musical durch eine andere Sichtweise nur gewinnen kann. Wie stark hat sich doch die Musicalszene im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren verändert (und wie schwer werden es die großen Longrun-Produktionen zunehmend haben!), wenn ein mittelgroßes Repertoire-Theater jetzt ganz locker auf dem Niveau arbeitet, das die privaten Musicaltheater noch vor zehn Jahren als ihre große Spezialität anpriesen

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"musicals" April 2003, Angela Reinhardt

Amerikanischer Alptraum

Unter die laute, grell-fröhliche Szene mischen sich Töne der Selbstreflexion: Im Bild oberflächlichen Amusements nimmt sich das Genre kritisch unter die Lupe. (...) Die Messlatte liegt hoch, und Davids weiß sie durch szenische Verdichtung zu unterlaufen. Auch wenn die Technik stolz präsentieren kann, was in einem Dreispartenhaus möglich ist, richten Davids und Callaghan ihr Augenmerk vor allem auf die Figuren. Mit ihnen inszenieren sie das Chaos des Kriegs und der Gefühle, das nur durch Drill und Militärchoreografie zu bändigen ist - oder im Tod den letzten Ausweg findet. Wo es die Partitur möglich macht, zeigen sie das Verwundungspotenzial des Kriegs. (...) Das Publikum sprang auf und ließ sich mitnehmen.

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St. Galler Tagblatt

Amerikanischer Albtraum

Schweizer Erstaufführung des Musicals «Miss Saigon» am Theater St. Gallen wird mit Ovationen gefeiert

Auf der letzten Strickleiter in die Freiheit entkommt GI Chris der Vietnamhölle – und einer Liebe, vor deren Gewalt er kapitulieren muss. Packend inszeniert Matthias Davids in der ersten Neuproduktion des Musicals «Miss Saigon» das Chaos der Gefühle. Der Krieg bleibt dabei omnipräsent.

Bettina Kugler

Im Traum von einem besseren Leben richtet sich die Fackel von Miss Liberty als Kulisse auf. Showgirls umtänzeln Uncle Sam, das Glück rieselt in Konfettiregen vom Himmel; die Heilsvision vom gelobten, freien Land wird zur Revuenummer. Glamour überschminkt die Narben, die der Krieg hinterlassen hat. Die rettende Hand: eine Attrappe aus Pappmaché.

Die Traumfabriken und Illusionswerkstätten produzieren weiter Abziehbilder vom Glück, vom schönen, heiteren Dasein, den «Märchentraum vom Glück», den Bargirl Gigi und die anderen vietnamesischen Mädchen im ersten Bild des Musicals mit trauriger Verzweiflung besingen. Doch bei genauerer Betrachtung ist die Amerika-Vision des Engineers nichts anderes als eine surreale Variation des Nachtclubs in Saigon, wo er die GIs mit Drogen, Sex und Schönheitswettbewerben bei Laune hielt. Eine schöne Retusche des Zerrbildes, das sich mit der Vergnügungshölle von Bangkok auftut. Unter die laute, grell-fröhliche Szene mischen sich Töne der Selbstreflexion: Im Bild oberflächlichen Amusements nimmt sich das Genre kritisch unter die Lupe. Denn eines der Erfolgsrezepte des Musicals besteht darin, mit anrührenden Geschichten, opulenten Bildern und eingängigen Soundtracks den «Märchentraum vom Glück» zu nähren.

Mehr als Kuschelklang

Auch «Miss Saigon» gibt ihm reichlich Futter. Dementsprechend lang füllte es in den letzten Jahren die Säle und Music Halls am Broadway, in London und Stuttgart. Eine sichere Partie für gute Auslastungszahlen, ein Leckerbissen fürs Publikum. Die Zutaten: tragische Liebe vor heilloser Kulisse, präzise gezeichnete Figuren und damit dankbare Rollen für Musicaldarsteller, szenische Kontraste; eine Partitur, die höchst professionell und wirkungsvoll die emotionalen Reflexzonen massiert und die mit Schlagwerk und asiatischen Flöten exotisch koloriert ist, ohne sich allzu weit vom Mainstream zu entfernen. Musik, die unter der Leitung von Christoph Wohlleben aber mehr als ein weichgespülter Klangteppich ist. Das Thema schliesslich ist angesichts eines drohenden US-Militäreinsatzes in Irak ein gegenwärtiges. Das Theater St. Gallen kann sich folglich die Hände reiben: Die erste frei lizenzierte Inszenierung des Erfolgsstücks von Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil garantiert Aufmerksamkeit weit über die Region hinaus. Zumal «Miss Saigon» zugleich Schweiz-Premiere feiert und mit Matthias Davids ein Regisseur gewonnen wurde, der seit 1994 eine respektable Zahl von Musicals inszeniert hat. Die Messlatte für seine Umsetzung liegt hoch, und Davids weiss sie durch szenische Verdichtung zu unterlaufen. Auch wenn die Technik unter Georges Hanimann und Frank Stoffel stolz präsentieren kann, was in einem Dreispartenhaus möglich ist, richten Davids und Callaghan ihr Augenmerk vor allem auf die Figuren. Mit ihnen inszenieren sie das Chaos des Kriegs und der Gefühle, das nur durch Drill und Militärchoreografie zu bändigen ist – oder im Tod den letzten Ausweg findet. Wo es die Partitur möglich macht, zeigen sie das Verwundungspotenzial des Kriegs.

Gesichter Amerikas

Den Darstellern gelingt es, aus Schablonen differenzierte Charaktere zu machen. Jesper Tydén findet glaubwürdige Gesten für die Zerrissenheit des jungen Soldaten, der wie in einem bösen Traum agiert, für kurze Zeit auf den Trümmern einen Splitter Ewigkeit in Händen hält und später von der Grösse der Gefühle überfordert ist. Verglichen mit der Lichtgestalt Kim, die Ruby Rosales von Leidenschaft beseelt singt und spielt, ist er die eigentliche tragische Figur. Neben anderen Unerlösten: dem Frontkameraden John (Michael Kelley, der stimmlich alles gibt, was das schwarze Amerika zu bieten hat), seiner Ehefrau Ellen (Eva Gullvåg Aasgaard), Inkarnation der unbefleckten Middleclass-Gesellschaft, dem Engineer, den James Sbano als Vater Courage, als ewig zynisch-optimistisches Stehaufmännchen auf die Bühne bringt.

Ausgebrannte Bestie

Stummer Hauptakteur jedoch ist die Drehbühne von Hans Kudlich: ein ausgebranntes Wrack eines Militärflugzeugs, brüchige Kulisse des Kriegs und seiner Schauplätze, abwechselnd Bordell, Militärbüro, Liebeshöhle, letzter Landeplatz einer kaum begonnenen, zertrümmerten Beziehung. Wie das Gerippe einer Riesenbestie wirft es seinen Schatten über jede Szene, spuckt noch Jahre später Albträume aus seinem ausgehöhlten Maul, wird zur Zeitmaschine, die sich in Kims Kopf rasant zu drehen beginnt und den panischen Moment der Trennung noch einmal durchspielt. Eine emotionale Höllenfahrt auf Hochtouren. Das Publikum sprang auf und liess sich mitnehmen. Der lang anhaltende, begeisterte Applaus galt nicht den Autoren von Kriegsszenarien.

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"St. Galler Tagblatt" 10.2.03, Bettina Kugler

Liebe in Zeiten des Krieges

Für die Schweizer Erstaufführung findet das Regieteam mit Matthias Davids an der Spitze immer wieder präzise Bilder, die den Vietnamkrieg nicht einfach zur Staffage degradieren, sondern die konflikthafte Beziehung zwischen privaten Sehnsüchten und sozialer Realität betonen. Gewichtigen Anteil am Gelingen hat die Drehbühne von Hans Kudlich: Ein rauchendes Flugzeugwrack sorgt dafür, dass Gefühligkeit nur selten aufkommt. Der Choreograph Dennis Callahan arrangiert die Massenszenen suggestiv, derweil Noëlle Blancpains Kostüme klare Akzente setzen. Das Premierenpublikum bedankte sich mit Standing Ovations für eine Aufführung, die unter die Haut geht und sich in den Hirnwindungen festsetzt.

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10. Februar 2003,  Neue Zürcher Zeitung

Liebe in Zeiten des Krieges

Das Musical «Miss Saigon» in St. Gallen

Nach der Flucht aus Saigon hat sich der Vietnamveteran Chris mit seiner Frau Ellen häuslich eingerichtet. Doch die verdrängte Kriegsvergangenheit meldet sich in schweren Träumen. Derweil vegetiert seine vietnamesische Geliebte Kim mit ihrem gemeinsamen Sohn in einer Betonröhre dahin und träumt von einem Leben mit ihm. In dieser parallel laufenden Szene wird deutlich, wie unvereinbar die beiden Welten geworden sind, so dass die Liebe nur mehr in der Tragödie enden kann.

Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg variieren in ihrem Musical «Miss Saigon» den Stoff von Puccinis «Madama Butterfly» und versetzen den Beginn der Handlung in die Endphase des Vietnamkrieges. Für die Schweizer Erstaufführung der deutschsprachigen Fassung am Theater St. Gallen findet das Regieteam mit Matthias Davids an der Spitze immer wieder präzise Bilder, die den Vietnamkrieg nicht einfach zur Staffage degradieren, sondern die konflikthafte Beziehung zwischen privaten Sehnsüchten und sozialer Realität betonen. Gewichtigen Anteil am Gelingen der Inszenierung hat die Drehbühne von Hans Kudlich: Ein rauchendes Flugzeugwrack sorgt dafür, dass Gefühligkeit nur selten aufkommt. Der Choreograph Dennis Callahan arrangiert die Massenszenen suggestiv, ohne die Individualität der Akteure auszublenden, derweil Noëlle Blancpains Kostüme klare Akzente setzen.

Aus dem international besetzten Solistenensemble ragt Ruby Rosales in der Hauptrolle heraus. Sie demonstriert, wie darstellerische und gesangliche Intensität ohne Druck auf die Stimmbänder möglich ist, während der verstärkte Gesang der übrigen Protagonisten und des von Walter Fähndrich einstudierten Chores einem im Forte oft nur noch in den Ohren gellt. Jesper Tydén als Chris befleissigt sich ebenfalls einer kontrollierten Stimmgebung, wirkt aber neben der Hauptdarstellerin rollengemäss etwas blass. Komödiantisch frisch, doch nicht immer textverständlich, gibt James Sbano den schlangenhaften Engineer, der sich in allen Lebenslagen zu behaupten weiss und auch nach drei Jahren Umerziehungslager immer noch dem «American Dream» anhängt. Das elektronisch verstärkte Sinfonieorchester St. Gallen spielt unter der Leitung von Christoph Wohlleben angesichts der gegebenen Umstände differenziert und bringt die Exotismen der Partitur effektvoll zur Geltung. – Das Premierenpublikum bedankte sich mit Standing Ovations für eine Aufführung, die unter die Haut geht und sich in den Hirnwindungen festsetzt.

Jürg Huber

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"Neue Zürcher Zeitung" 10.2.03, Jürg Huber

Anrührend-zart und drastisch

Der Regisseur Matthias Davids gibt allem ein klares Relief, den anrührend-zarten und den drastischen Momenten. Ein Höhepunkt bewegter und bewegender Inszenierungskunst ist dann jene Szene in der US-Botschaft, bei der in einer dramatischen Aktion die letzten Amerikaner aus Saigon ausgeflogen werden und sich Kim und Chris verlieren.

"Der Landbote" 10.2.03, Herbert Büttiker

Brüche im Rhythmus

Der Blick auf das Wesen der skizzierten Menschen abseits ihrer Rolle im Weltgeschehen gelingt - eben durch den Verzicht auf aufwändige, ablenkende technische Spielereien. Davids´ Figuren vermögen die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu bündeln. Die Brüche des gemäßigten Rhythmus dieser "Miss Saigon" schaffen es, manches plakative Rollenbild a lá Musical zwar ein Stückweit aufrecht zu erhalten, jedoch nie ins lächerlich übertrieben Pathetische abgleiten zu lassen.

"Südkurier" 12.2.03, Alexia Sailer

Große Liebe, die entbrennt, hofft, kämpft und leidet

Zum positiven Gesamteindruck trägt die aufmerksame Regie bei, die weiß, was sie mit ihren Hauptfiguren anfangen soll. Regisseur Matthias Davids scheint hier auf dem richtigen Posten zu stehen. Er versteht es, konfliktreiche Situationen wie die aussichtslose Liebe mit viel Spannung und gefühlsbetonten Effekten darzustellen. (...) Beeindruckend auch das Bühnenbild von Hans Kudlich. Die Trümmer der Liebe und die Trümmer der Gewalt, diese visuelle Idee in einem Bühnenbild zu vereinigen, ist fantastisch gelungen. Alle Schauplätze werden durch eine begehbare Skulptur verbunden und somit lässt der Regisseur mit seiner Inszenierungskunst den Schwerpunkt um eine große Liebe, die entbrennt, hofft, kämpft und leidet, in die Figuren fließen und nicht in die technischen Effekte.

"musicalcocktail" März 2003, Sonja Frischknecht

So ist sie, unsere Welt

Seiten könnte man mit den Einsichten und Einfällen der Inszenierung füllen. Nachhaltig dürfte der Eindruck sein, wie gekonnt Liebe, Sex, soziale Not, die Sehnsucht nach Ordnung, die martialische Widerwärtigkeit, das Schicksalhafte homogen vor Augen geführt werden. So ist sie, diese unsere Welt, fokussiert in der neuen Fassung des Musicals "Miss Saigon".

"Thurgauer Zeitung" 14.2.03, Gerhard Hellwig

Termine

08. Februar 2003, 19:30 Uhr
Theater St. Gallen

29. August 2004, 20:00 Uhr
letzte von 43 Vorstellungen