Stückinfo

Comic Operetta in zwei Akten (1956/1988)

Musik von Leonard Bernstein
Buch von Hugh Wheeler nach dem Roman Candide oder der Optimismus von Voltaire.
Gesangstexte von Richard Wilbur, Stephen Sondheim, John Latouche, Lillian Hellmann, Dorothy Parker und Leonard Bernstein.
Orchestrierungen von Leonard Bernstein, Hershy Kay und John Mauceri.
Deutsch von Stephan Kopf, Zelma und Michael Millard

Dialoge in deutscher Sprache, Gesangstexte in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

»You were dead, you know«, entfährt es dem jungen Candide, als er seine geliebte, totgeglaubte Cunegonde in Paris wiederfindet. An absurden Formulierungen, Unwahrscheinlichkeiten, Wirrnissen und Verstrickungen mangelt es auf Candides weltumspannender Reise nicht. Candide wächst als Bastard in einem Schloss auf, genießt die gleiche Bildung wie die legitimen Sprösslinge des örtlichen Barons von Westphalia, Maximilian und Cunegonde. Seine Liebe zu Letzterer wird Candide allerdings zum Verhängnis: Der standesdünkelnde Maximilian steckt den Eltern die heimliche Liaison und führt damit die Verbannung Candides herbei. Enttäuscht, aber nicht entmutigt, beginnt Candide seine Reise, denn eines hat er bei seinem Lehrmeister Pangloss gelernt: Wir leben in der besten aller möglichen Welten.

Kein Geringerer als Voltaire lieferte die Vorlage zu Bernsteins »Comic Operetta«. Voltaires »Candide oder der Optimismus« (1759) parodiert und kommentiert bissig die »Theodizee« Gottfried Wilhelm Leibniz’. »Candide« ist ein Aufruf, sich aus der Schicksalsfügung zu befreien, sich dabei aber nicht über andere Menschen zu erheben, sie zu bekehren, belehren und umzuerziehen. Ein Plädoyer für Toleranz und für die Arbeit an sich selbst. Leonard Bernsteins ebenso spritzige wie tiefgründige Musik, die meisterhaft Operetten- und Musicalton zitiert und mit Tanzmusik aus aller Welt kombiniert, beweist, dass philosophische Stoffe auch leicht und doch nicht weniger ernsthaft behandelt werden können. Bernstein schuf themengerecht die beste aller möglichen Operetten und zeigte: Auch die Operette ist eine Totgeglaubte, die sehr lebendig ist.

Medien

Leitungsteam

Regie
Matthias Davids
Musikalische Leitung
Karen Kamensek
Choreografie
Simon Eichenberger
Bühne und Video
Mathias Fischer-Dieskau
Kostüme
Susanne Hubrich
Dramaturgie
Christopher Baumann

Darsteller

Pangloss / Martin / Cacambo / Voltaire
Frank Schneiders
Candide
Sung-Keun Park
Cunegonde
Anja Vegry
Paquette
Carmen Fuggiss
Maximilian
Christopher Tonkin
Alte Lady
Diane Pilcher
Schauspieler
Daniel Drewes
Schauspieler
Jan Viethen

Presse

Auftritt: Leibniz

Das Erfolgsteam um den Regisseur Matthias Davids sorgt in Hannover seit Jahren dafür, dass das Publikum sich auch bei vermeintlich leichter Muse nie unter Niveau amüsieren muss. Mit ihrer Version der haarsträubenden, rasanten Handlung von„Candide“ hat das Regieteam nun ein Meisterstück abgelegt. (...) Vor allem aber nutzt der Regisseur jede Gelegenheit, im Stück die Gegenwart anklingen zu lassen: Ohne auf oberflächliche Aktualisierung zurückzugreifen lässt er dem Text immer wieder den Raum, seine erstaunliche Zeitgenossenschaft entfalten: Man kann kaum glauben, dass das, was hier von Lebensentwürfen und religiösen Verwerfungen erzählt wird, schon 300 Jahre alt sein soll.

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HAZ

Candide-Premiere in der Staatsoper

Auftritt: Leibniz

Die Staatsoper Hannover eröffnet mit Leonard Bernsteins „Candide“ den Veranstaltungsreigen anlässlich des 300. Todesjahres von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hannovers scheidende Generalmusikdirektorin Karen Kamensek hat sich das Stück für ihre letzte Spielzeit – und damit nicht nur den Musikfreunden der Stadt ein schönes Abschiedgeschenk gemacht.

Hannover. Das Gute daran, wenn das Leben kaum etwas zählt: Der Tod taugt auch nichts. Darum kommt in „Candide“, Leonard Bernsteins „Comic-Operetta“ nach dem Roman von Voltaire, auch niemand dauerhaft um. Es wird erstochen, erhängt und verunglückt – und ein paar Minuten später finden sich die vermeintlichen Opfer schon wieder quicklebendig an irgendeinem der exotischen Schauplätze dieses schillernden Stücks. Darum passt es nicht schlecht, wenn die Staatsoper Hannover damit nun den Veranstaltungsreigen anlässlich des 300. Todesjahres von Gottfried Wilhelm Leibniz eröffnet, der 2016 zum Leibniz-Jahr adeln soll.

Zumindest auf der Bühne ist der Universalgelehrte nicht totzukriegen. Als Doktor Pangloss hat ihm sein philosophischer Gegenspieler Voltaire in „Candide“ ein spöttisches Denkmal gesetzt: Mit allen nur denkbaren Katastrophen wird Leibniz’ Lehrsatz von unserer Welt als der besten aller möglichen Welten ad absurdum geführt. Pangloss ist hier Hauslehrer des einfältigen Titelhelden Candide, der auch die härtesten Schicksalsschläge (fast) bis zum Schluss für gute Nachrichten hält.

Die Staatsoper Hannover eröffnet mit Leonard Bernsteins „Candide“ den Veranstaltungsreigen anlässlich des 300. Todesjahres von Gottfried Wilhelm Leibniz.

Der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein hat diese spitzzüngige Vorlage 1956 in eine Musik gesetzt, die sich beharrlich allen Gattungszuordnungen entzieht: Sein Stück ist eine immer wieder überraschende Mischung aus Musical, Operette und Oper.

Hannovers scheidender Generalmusikdirektorin Karen Kamensek ist dieses übersprudelnde Musikamalgam allerdings schon lange vertraut: „Candide“ war das erste Musiktheaterstück, mit dem die junge Kapellmeisterin am Anfang ihres Studiums betraut wurde. Für ihre letzte Spielzeit hat sie sich nun das Stück gewünscht – und damit nicht nur den Musikfreunden der Stadt ein schönes Abschiedgeschenk gemacht. „Hit it, Karen!“, ruft ihr ein Sänger vor einem Einsatz einmal zu. Tatsächlich hat die Dirigentin mit dieser Produktion einen Volltreffer gelandet.

Das mit erkennbar viel Spaß und Schwung aufspielende Orchester sitzt in Gruppen verteilt mitten auf der Bühne, die Mathias Fischer-Dieskau (der Sohn des großen Liedsängers) als Reminiszenz an Broadway-Aufführungen gestaltet hat. Stege neben und zwischen den Musikern eröffnen den Akteuren schmale Räume, die wie Showtreppen genutzt werden können. Nur ganz hinten gibt es eine kleine Spielfläche, auf der der Bühnenbildner seinen großen Theaterzauber entfaltet: Ein paar Seile genügen, um mithilfe der Videoprojektionen an der Rückwand blitzschnell Häuser, Schiffe und Paläste lebendig werden zu lassen.

Fischer-Dieskau gehört zum Erfolgsteam um den Regisseur Matthias Davids, das in Hannover seit Jahren dafür sorgt, dass das Publikum sich auch bei vermeintlich leichter Muse nie unter Niveau amüsieren muss. Mit ihrer Version der haarsträubenden, rasanten Handlung von„Candide“ hat das Regieteam nun ein Meisterstück abgelegt. Weder die grell überzeichneten Kostüme (Susanne Hubrich) noch die Klamaukeinlagen der Schauspieler Daniel Drewes und Jan Viethen bringen je Bernsteins feingliederiges Gefüge aus Karikatur und Ernst durcheinander. Wenn die Musik den Saal plötzlich mit großem Gefühl flutet, ist auch die Szene mit Pathos zur Stelle.

Vor allem aber nutzt der Regisseur jede Gelegenheit, im Stück die Gegenwart anklingen zu lassen: Ohne auf oberflächliche Aktualisierung zurückzugreifen lässt er dem Text immer wieder den Raum, seine erstaunliche Zeitgenossenschaft entfalten: Man kann kaum glauben, dass das, was hier von Lebensentwürfen und religiösen Verwerfungen erzählt wird, schon 300 Jahre alt sein soll.

Große Flexibilität legen auch die mikrofonverstärkten Sänger an den Tag: Frank Schneiders wirkt als Voltaire-Erzähler und Leibniz-Double so überzeugend, als sei er nie etwas anders als Schauspieler gewesen. Erst wenn er singt, wird man erinnert, dass er vor allem ein wunderbarer Bariton ist. Szenisch etwas weniger gefordert ist Sung-Keun Park, der dem Titelhelden vor allem stimmlich Glanz und Wärme verleiht. Und Sopranistin Ania Vergy bewältigt auch mit schauderhaft tantenhafter Frisur die extremen vokalen Ansprüche, die die Arie „Glitter and be Gay“ zum Hit und Bravourstück von „Candide“ machen, und bringt als verzogene Kunigunde auch sämtliche Temperamentsausbrüche ihrer Figur glaubhaft über die Rampe: Großer Jubel im auch von auffällig vielen jüngeren Besuchern gefüllten Saal.

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Hannoversche Allgemeine

Die Welt, wie ist ist, ist Mist - und schrill

Nach zweieinhalb Stunden jazzigem Orchesterfeuer, turbulenten Gags und Arien vom Feinsten war das hannoversche Premierenpublikum im "Candide"-Rausch: Bravos und Jubel satt. (...) Matthias Davids macht daraus eine spritzige Revue. Das Orchester kommt auf die Bühne, ein Laufsteg geht quer hindurch, rechts und links Rampen und hinten eine Spielfläche, an der Stirnwand Videoinstallationen. Mit ein paar weißen Stricken, immer wieder anders verknüpft, wird alles dargestellt: ein Haus, ein Boot, ein Galgen ... Und dazu eine Klamottenorgie von bunt bis schrill.

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Die Welt, wie sie ist, ist Mist – und schrill

Matthias Davids inszeniert Bernsteins „Candide“ in der Oper als temporeiche Klamottenorgie

Nach zweieinhalb Stunden jazzigem Orchesterfeuer, turbulenten Gags und Arien vom Feinsten war das hannoversche Premierenpublikum im „Candide“-Rausch: Bravos und Jubel satt. Dabei hätten zumindest die Lokalpatrioten reservierter reagieren können. Immerhin hat Leonard Bernstein den gleichnamigen Roman Voltaires vertont. Und darin wird der hannoversche Hofphilosoph Leibniz so richtig durch den Kakao gezogen.

Der meint nämlich, die Welt ist, wie sie ist, und damit die beste aller möglichen. Voltaire meint, die Welt ist eher Mist, und schickt in seinem Roman eine Truppe junger deutscher Adeliger nebst Bedienung durch die Hölle – Krieg, Naturkatastrophen, heilige Inquisition, Völkermord, Schiffbruch, Organisierte Kriminalität und so weiter … Bis es der letzte begriffen hat: Gut geht anders.

Jedes Mal kommen einige der Truppe um, sind aber – oh Wunder! – in der nächsten Szene doch irgendwie gerettet worden. Immer dasselbe Muster – das kann ganz schön länglich werden. Nicht aber in Matthias Davids‘ Inszenierung. Der macht daraus eine spritzige Revue. Das Orchester kommt auf die Bühne, ein Laufsteg geht quer hindurch, rechts und links Rampen und hinten eine Spielfläche, an der Stirnwand Videoinstallationen (von Mathias Fischer-Dieskau). Mit ein paar weißen Stricken, immer wieder anders verknüpft, wird alles dargestellt: ein Haus, ein Boot, ein Galgen … Und dazu eine Klamottenorgie von bunt bis schrill (Susanne Hubrich).

Dreh- und Angelpunkt bei den Sängern ist Frank Schneiders als Haushofmeister oder als Voltaire oder, oder … Er treibt die Handlung mit viel Spielwitz und durchaus stimmgewaltig voran. Sung-Keun Park kann so traurig der verlorenen Liebe Cunegonde hinterhersingen, dass es fast schon rührend ist. Sein Tenor strahlt viel Leichtigkeit und Kraft aus. Man fragt sich allerdings, wie er und die vielen anderen dieser Cunegonde überhaupt in einschlägigen Kontakt treten konnten. Sie trägt unausgesetzt einen Hartschalen-Reifrock – undurchdringlich!

Ania Vegrys virtuose Koloraturen werden davon jedenfalls nicht behindert. Atemberaubend ihre Juwelenarie! So locker, sie sie das stemmt, geht es überhaupt zur Sache. Es wird viel gealbert. Besonders Carmen Fugiss (Zofe), Christopher Tonkin (Maximilian, Conegondes Bruder), Diane Pilcher (Lady) und Patrick Jones (Gouverneur) kommen stimmlich und spielerisch gut rüber. Besonders schöne Lachnummer: die Slapstick-Lieferanten Daniel Drewes und Jan Viethen.

Auf eine dezente elektronische Verstärkung konnte man allerdings nicht verzichten. Dafür war das Orchester räumlich zu präsent. Aber gerade die engagierte Präzision, mit der Generalmusikdirektorin Karen Kamensek die Musiker antrieb, war spannend. Sie heizte Bernsteins Ohrwürmer nicht einfach auf, sondern blieb akkurat und pointiert. Großes Lob für das Orchester. Schwung und Dynamik übertrug sich auch unmittelbar auf den Chor, eine volltönende Kulisse. Entschiedene Zustimmung für eine bunte und auch bittere Revue über die Welt, wie sie nun mal ist. Das müssen auch die Leibniz-Fans zugeben.

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Neue Presse

Beste aller möglichen Inszenierungen

Bei all den Liebeswirren und skurrilen Situationen in Bernsteins Operette wird leicht übersehen, dass das zentrale Thema in "Candide" die Frage nach dem Sinn des Leides in der Welt ist; eine Frage, die die Menschen zu allen Zeiten beschäftigte. Regisseur Davids entschied sich bewusst gegen jegliche aktuellen Anspielungen. (...) Eine gute Entscheidung, denn bei aller aktuellen Brisanz bleibt Bernsteins "Candide" in erster Linie ein unterhaltsames und in großen Teilen absurdes Stück. Für kurzweiligen Spaß auf musikalisch höchstem Niveau ist diese Inszenierung die beste aller Möglichkeiten.

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NDR Kultur

„Candide“: Spartanisch inszenierter Klassiker

von Agnieszka Zagozdzon

Am Samstagabend hat an der Staatsoper Hannover die Neuinszenierung von Leonard Bernsteins Operette „Candide“ Premiere gefeiert. Das Stück beruht auf dem gleichnamigen Roman von Voltaire, in dem er sich auf satirische Weise mit der „Theodizee“ des Philosophen Leibniz auseinandersetzt. Regie führt Matthias Davids, der in Hannover schon öfters arbeitete.

Auf Schloss Thunder-Ten-Tronckh lebt der junge Candide zusammen mit den Kindern des Schlossherrn: dem eitlen Maximilian und der schönen Cunegonde. Nach einem Techtelmechtel mit Cunegonde wird Candide jedoch vom Schloss verbannt. Was folgt, ist eine lange Reise – zu Fuß und per Schiff – quer durch die Welt: nach Lissabon, Paris, Buenos Aires, Eldorado und Venedig.

„Improvisatorisch, leicht – aber nicht zu leicht“

Die ständigen schnellen Ortswechsel sind eine der größten Herausforderungen in Leonard Bernsteins „Candide“, gesteht Regisseur Matthias Davids. „Man kann es voll kostümiert machen, man kann eine riesige Kostümschlacht und Ausstattungsschlacht machen – man kann es aber auch ganz spartanisch machen“, erklärt Davids. Die Erzählweise habe ihn bei den Vorarbeiten für das Stück am meisten beschäftigt. Er habe sich dann für eine improvisatorische, leichte, aber nicht zu leichte Version entschieden.

So werden die einzelnen Stationen von Candides Reise mit allerlei cleveren Kniffen nur angedeutet: Ein paar aufgespannte Seile sollen mal ein Haus darstellen und nur Sekunden später ein Schiff. Minimale Änderungen an den Kostümen machen aus Matrosen im Nu Jesuiten oder eine Partygesellschaft. Selbst das Orchester und Generalmusikdirektorin Karen Kamensek – die in der Inszenierung auf der Bühne sitzen – dürfen mitmachen. Und so gerät Cunegonde in regelrechte Ekstase, als sie zwischen den Orchestermusikern Juwelen findet.

Ein starkes Ensemble

Sopranistin Ania Vegry brillierte als juwelenverliebte Cunegonde, ebenso wie Diane Pilcher als Cunegondes glamouröse Begleiterin „Alte Lady“ sowie Christopher Tonkin als selbstverliebter Maximilian. Große Wandlungsfähigkeit bewies Frank Schneiders, der gleich mehrere Partien übernahm – wie auch die beiden Schauspieler Daniel Drewes und Jan Viethen, die sämtliche Nebenrollen spielten: von Soldaten über Priester bis hin zu einem gefräßigen Schaf. Tenor Sung-Keun Park in der Titelrolle stellte den Optimisten Candide, der allmählich an Leid, Gewalt und Tod verzweifelt, mit berührender Naivität dar.

Geschichte bleibt relevant – auch ohne aktuelle Bezüge

Bei all den Liebeswirren und skurrilen Situationen in Bernsteins Operette wird leicht übersehen, dass das zentrale Thema in „Candide“ die Frage nach dem Sinn des Leides in der Welt ist; eine Frage, die die Menschen zu allen Zeiten beschäftigte. Regisseur Davids entschied sich bewusst gegen jegliche aktuellen Anspielungen. „Wenn ich die Bernstein-Musik höre und jetzt aktuelle militärische Geschichten dazu auf die Bühne bringen würde – dann fände ich das läppisch.“ Der Kontrast zwischen operettenhafter Musik der 50er-Jahre und „schrecklicher“ Realität sei dann zu groß. Eine gute Entscheidung, denn bei aller aktuellen Brisanz bleibt Bernsteins „Candide“ in erster Linie ein unterhaltsames und in großen Teilen absurdes Stück. Für kurzweiligen Spaß auf musikalisch höchstem Niveau ist diese Inszenierung die beste aller Möglichkeiten.

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NDR Kultur

Das Abenteuer der Flucht

Seinen eigenen Garten bestellen muss nicht heißen, dass man „Blumengießen“ geht – denn im Nichtrevoltieren kann auch ein Fortschritt bestehen: Matthias Davids öffnet in seiner hintergründigen Inszenierung von Bernsteins Comic Operetta „Candide“ in beengtester Szenerie neue Gedankenräume. (...) Ein dreidimensionales fantastisches Kaleidoskop all dies, niemals eine Umbaupause erforderlich machend und dennoch permanent im Auf- und Umbruch befindlich, wie auf der Flucht.

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Das Abenteuer der Flucht

Seinen eigenen Garten bestellen muss nicht heißen, dass man „Blumengießen“ geht – denn im Nichtrevoltieren kann auch ein Fortschritt bestehen: Matthias Davids öffnet in seiner hintergründigen Inszenierung von Bernsteins Comic Operetta „Candide“ in beengtester Szenerie neue Gedankenräume.

Die Damen und Herren des Chors strömen schon kurz nach der Ouvertüre von allen Seiten auf die Bühne, und sie tragen weiße Halskrausen. Wie Kleriker. Oder auch wie Clowns. Mit ersteren rechnet Voltaire in seinem berühmten Roman „Candide“ bekanntlich gehörig ab, und zur Satire passt durchaus auch das clowneske Element – das noch verstärkt wird dadurch, dass die Chorsänger kleine spitze Hüte tragen (Kostüme von Susanne Hubrich). Dies jedoch scheint ein Ausstattungsdetail zu sein, mithin von eher nachgeordneter Bedeutung.

Candide Oper Hannover

Literarische und musikalische Abrechnung mit jeglicher Art von Indoktrination

Ohnehin viel blickfälliger, von Anfang an, die Bühnensituation. Denn bei der abenteuerlichen Weltreise, auf die der französische Philosoph in seiner literarischen Abrechnung mit den Thesen des Universalgelehrten Leibniz seinen Titelhelden schickt, sind nicht bloß Naturkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes zu veranschaulichen – es wirkt trotz übersichtlicher Anzahl der Hauptakteure ein immenses Reservoir an Nebendarstellern und Statisterie mit. Doch für spektakuläre Effekte und Menschenmassen ist auf jenen Brettern, die die Welt bedeuten, keinesfalls Platz.

Das Boot ist vielmehr voll, denn das Orchester hat sich dort schon breit gemacht. Die ganze Bühne eine in die Tiefe des Raums sanft ansteigende schiefe Ebene – der Graben abgedeckt, darauf die Musiker spielend, dazwischen schmale Laufstege, wie Planken, auf denen die Akteure lange Wege abschreiten, entlanghetzen oder posieren müssen, ganz hinten schließlich, wie auf dem Oberdeck, ein unverstelltes Rechteck, das als bescheidene Aktionsfläche taugen mag.

Auf der dahinter befindlichen Leinwand sieht man zunächst den Titel des Werks – der Ausgangspunkt zumindest ist klar –, dann jedoch Projektionen der jeweiligen Landschaft, in der das Ganze spielt, zugleich unterschiedlichste dramatische Stimmungen symbolisierend, während eine ausgeklügelte Konstruktion ineinandergeknoteter Seile in Windeseile verschiedenste Raumkonstellationen und Objekte simuliert – ein Lehrzimmer im Schloss, ein Haus, eine Bootskajüte, einen Galgenbaum (Bühne und Video von Mathias Fischer-Dieskau). Ein dreidimensionales fantastisches Kaleidoskop all dies, niemals eine Umbaupause erforderlich machend und dennoch permanent im Auf- und Umbruch befindlich, wie auf der Flucht.

Candide Oper Hannover

Schlechte Zukuftsaussichten: Zwei Vertriebene, obendrein als Randgruppe erkennbar

Dies nämlich ist, wie die Inszenierung von Matthias Davids quasi im Vorbeigehen offenbart, der zentrale Aspekt des Romans, zugeschärft noch im Libretto. Jenes hat viele geistige Mütter und Väter, die allererste Version stammt aus dem Jahr 1956, weitere von 1974 und noch später. Und dennoch ist der Text unerhört aktuell. Am deutlichsten im zweiten Akt, als die Akteure ihre Existenz selbst als „Abenteuer der Flucht“ bezeichnen. Bereits zuvor, am Ende des ersten Akts, besingt die polnische Baronin, die gelernt hat, fremde Nationalidentitäten mühelos in ihre eigenen Gewohnheiten zu integrieren, die Quintessenz ihrer Lebensweisheit mit den Worten: „Gib dich niemals als Randgruppe zu erkennen.“ Und bei ihrer waghalsigen Überfahrt nach Eldorado singen die Protagonisten, derweil der eine oder andere mit geradezu artistischer Eleganz über Bord geht: „Wir segeln in das Land aus Gold“. Dessen Herrscher spricht übrigens in Stimmlage und Akzent eines gewichtigen deutschen Staatsmannes.

Geradezu ins Auge springt diese Thematik jedoch in jenem frühen Augenblick, da Candide buchstäblich aus dem Schloss geworfen wird. Ärmlich gekleidet, sein kleines Bündel an Habseligkeiten auf dem Rücken tragend, schleppt er sich bis vorn an die Rampe und verkriecht sich, Schlaf und Schutz suchend, unter einen aufgespannten klapprigen Regenschirm. Ein Vertriebener. Als er brutal von Soldaten geweckt wird, spielt sich sein Schicksal nicht etwa in opernüblicher Distanz, also hinter dem Orchestergraben und hoch über den Zuschauerköpfen ab, sondern vollzieht sich in unmittelbarer Nähe der ersten (und besten) Reihen des Auditoriums. Das klinisch-neutrale Schlagwort der „Flüchtlingskrise“ pulsiert ganz plötzlich mit individuellem, höchst menschlichem Leben.

Candide Oper Hannover

Heitere Unbekümmertheit: Bully Herbig hätte seine helle Freude an einem Helden wie ihm

Dass all die Brutalität, die zumindest in den Erzählungen der Akteure, oftmals jedoch auch auf offener Bühne waltet, den Zuschauer dennoch nicht übermannt, dass man trotz allem einen geradezu erschreckend vergnüglichen Abend hat, ist durchaus im Sinne Voltaires. „’Candide’ zeigt … eine vollendete Unbekümmertheit, jene heitere Unbekümmertheit, die nur in einem Menschen entstehen kann, der sein ganzes Elend verstanden und der vor allem verstanden hat, dass er es nur durch Heiterkeit überwinden kann“, charakterisierte Jean Orieux den Roman in seinem Werk „Das Leben des Voltaire“ (zit. n. der Roman-Ausgabe des Insel-Verlags 1973, S. 186).

Man sollte meinen, dass ein solcher Mensch heutzutage nicht mehr denkbar ist, vor allem nicht für jüngeres Publikum. Unübersehbar charakterisiert ist seine naiv-liebenswerte Persönlichkeit durch die Zipfelmütze, die er trägt: Ein deutscher Michel. Er ist aber auch, wie Sung-Keun Park in der Rolle des Titelprotagonisten mit umwerfender darstellerischer Treffsicherheit beweist, eine Art Held, an dem Bully Herbig seine helle Freude hätte. Spätestens beim Zusammentreffen mit indianischen Eingeborenen (und obwohl er hier nicht den Part des Häuptlings, sondern des weißen Eindringlings innehat) durchweht ein Hauch absurd-unschuldiger Komik des „Schuh des Manitu“ die Szenerie.

Candide Oper Hannover

Beste Koloratursopran-Satire: „Glitter and be gay”

Und auch diese Lesart passt. Sowohl die literarische Vorlage als auch Bernsteins Musik ist scharfsinnige Parodie – eine hinreißende Melange aus verschiedenen Stilen, voll hintergründiger Anspielungen und Zitate. „Candide“, wie diese Inszenierung in atemberaubenden Tempo spiegelt, hat sowohl dramaturgisch wie musikalisch das Zeug zur Oper, Musikrevue und Travestieshow. So wie Voltaire mit der absurden Beweisführungslogik von Leibniz („Kanonen machen Bauern und Adel gleich“) literarisch abrechnet (was in den Übertexten stellenweise durch quasimathematische Aussageketten ironisiert wird), rechnet Bernstein ab mit dem Genre „Oper“ – insbesondere in Cunegondes Lied „Glitter and be gay“, die beste Koloratursopran-Satire ist. Ania Vegry lässt sie mit Verve, zur Begeisterung des Publikums, zum gesanglichen und darstellerischen Höhepunkt des Abends geraten.

Dennoch: Sogar bei den parodistisch angelegten Rollen, und obwohl es sich um fiktive Charaktere handelt, vermag man nicht aus vollem Herzen zu lachen. Für den Titelhelden, den Sung-Keun Park niemals der Lächerlichkeit preisgibt, gilt dies allemal. Sein Schicksal lässt den Zuschauer unmöglich kalt – vor allem nicht in jener Szene, da er in einem bewegenden Lied die Schuld bei sich selbst dafür sucht, dass ihm überall Unglück widerfährt. Wie, so fragt man sich unterschwellig die ganze Zeit, können Menschen weiterleben, nachdem sie derart traumatische Situationen durchgemacht haben?

Die Antwort auf diese Frage lässt Voltaire in seinem Roman den Titelhelden aussprechen, im Libretto geschieht dies noch dezidierter. In Bernsteins Vertonung stimmt der Chor im Finale in den Gesang der Protagonisten ein, die fortan nichts anderes mehr wollen als ihren Garten zu bestellen. Eine solche Geisteshaltung hat Georg Kreisler 1968 in seinem satirischen Chanson „Blumengießen“ gründlich durch den Kakao gezogen.

Candide Oper Hannover

Nicht Umstürzler, sondern Leichtmatrosen auf dem unbeständigen Meer des Lebens

In dieser Inszenierung jedoch ist die Wirkung des Fazits eine andere. Das wiederum liegt an der Aufmachung der Chorsänger, die nun, kurz vor Schluss, noch einmal ins Bewusstsein rückt. Mit ihren spitzen Hüten, ihren Halskrausen, ihren rotgeschminkten Bäckchen ähneln sie einem Karnevalschor. Und die Emphase, mit der sie singen, weckt die Erinnerung an ein Lied, mit dessen Darbietung jener Chor seit 1956 für Jahrzehnte zum festen Programmteil einer Sendung wie „Mainz, wie es singt und lacht“ gehörte: „So ein Tag, so wunderschön wie heute…“ In nicht wenigen Haushalten Nachkriegsdeutschlands stand sogar ein Mitschnitt davon im Plattenschrank.

Was man in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren – vielfach zu Recht – als Verdrängung oder Beschönigung anprangerte, steht zumindest in Voltaires Roman, auch im Libretto zu Bernsteins Comic Operetta, für etwas ganz anderes: sich von niemandem mehr indoktrinieren lassen zu wollen. Nicht von einer Irrlehre zur nächsten wechseln. Deshalb strebt ein Mensch wie Candide keine Revolutionen an, er ist kein Umstürzler. Und das ist gar nicht das Schlechteste. Es kann nämlich ein erster Schritt sein hin zu Offenheit und Toleranz.

Beispiele für vergebliche Umstürzlerei hat der Regisseur sogar auf musikalischer Ebene eingebaut: Ganz zu Beginn stürmen von rechts und links zwei Dirigenten taktstockfuchtelnd aufeinander zu – derweil Generalmusikdirektorin Karen Kamensek Bühne und Publikum mit charmanter Selbstverständlichkeit erobert. Als ihr später durch Cunegonde der Taktstock aus der Hand genommen (und als Haarnadel zweckentfremdet) wird, wirft sie auch das nicht aus nicht der Bahn. „Candide“ war das allererste Werk, das sie korrepetierte, und bei ihrem beschwingten, die enorme Nuancenvielfalt inspiriert auskostendem Dirigat wirkt Bernsteins Musik tatsächlich wie ein Jungbrunnen. In jeder Hinsicht bestens eingestimmt erweist sich das Niedersächsische Staatsorchester Hannover; hervorragende Solisten (in weiteren Hauptrollen Carmen Fuggiss als Paquette, Christopher Tonkin als Maximilian, Diane Pilcher als Alte Lady und Frank Schneiders als Voltaire, Pangloss, Cacambo und Martin – er ist nicht der einzige, der seine Wandlungsfähigkeit beeindruckend unter Beweis stellen muss) sowie ein wunderbar ausdrucksstarker Chor bescheren einen äußerst amüsanten und nachdenkenswerten „Candide“.

Nachdenklich stimmt übrigens auch der Slogan, mit dem der aus Hannover stammende und nach Leibniz benannte Keks 1898 beworben wurde: „Was isst die Menschheit unterwegs? Na selbstverständlich Leibniz Keks!“

Christa Habicht, 25. Oktober 2015

 

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