Anfang März 2020 war die Premiere angesagt, am Ostersamstag war es nun wirklich so weit. Ingmar Bergmans berühmte Familiengeschichte (1982) „Fanny und Alexander“ steht auf der Bühne des Schauspielhauses, für die Linzer Uraufführung als Musical adaptiert von Komponist Gisle Kverndokk und Drehbuchautor Oystein Wiik. In der Regie von Musicalchef Matthias Davids und Dramaturg Arne Beeker dreht sich die Bühne um eine Theaterfamilie als Widerpart zu einer gnadenlos harten klerikalen Gesellschaft. Das bürgerliche Sittengemälde spielt in Schweden am Beginn des 20. Jahrhunderts. Originalgetreue Kostüme stammen von Susanne Hubrich. Hans Kudlich schuf verschachtelte Räume, die durch kurze Drehungen zum hohen, kalten Bischofspalais werden oder als Festsaal der Theatergesellschaft dienen, wo das wiederkehrende Trinklied „Schluck, schluck“ heftigere Emotionen neutralisiert.
Nach dem Tod von Theaterdirektor Oscar Ekdahl sucht dessen Witwe Helena Trost beim bigotten Bischof Vergerus. Die Kinder bekommen von Anfang an despotisches Verhalten von ihrem neuen Stiefvater zu spüren, das bald in ungezügelte Gewalt mündet. Ihre Großmutter organisiert schließlich mithilfe eines alten Freundes ihre abenteuerliche Befreiung.
Als Oscar Ekdahl zeigt Karsten Kentzel in den Auftritten vor seinem Tod einen bei aller Liebe überforderten Künstler, posthum erscheint er als abgeklärter Beistand seiner Kinder. Witwe Emilie, demütig leidend gespielt von Sanne Mieloo, glaubt man die Sehnsucht nach einem starken Mann. Sie begreift zu spät, versucht dann trotz Schwangerschaft der ehelichen Gefangenschaft zu entkommen.
Herausragender junger Titelheld
Allseits ist viel von Liebe die Rede. Aus Liebe behauptet der Bischof, „die Saat des Teufels niederbrennen“ zu müssen. Drastische Szenen führen körperliche und psychische Gewalt gegenüber Mutter und Kindern vor. Die Bühne dreht unvermittelt zum vergleichsweise trivialen Alltag der Theatergesellschaft, die nicht minder deutlich den folgenreichen Seitensprung neben ehelichem Vergnügen inszeniert, oder auch mal mit Flatulenz witzig sein will, Theater halt. „Das Leben ist ein wonnig flüchtiges Schattenspiel“, zitiert der sechsjährige Alexander aus Macbeth, Hamlet hat er ebenso parat. Prototypische Charaktere treten Komplexe und Nöte breit. Ihre Arien und Chöre, begleitet von 15 Orchestermusikern, schwanken gelegentlich Richtung Operette oder in opernhafte Dramatik. Heraus ragt dabei die Stimme von David Arnsperger als Bischof.
Großartig agiert der zwölfjährige Matthias Körber als Alexander. Mutig bietet er dem Bischof die Stirn, doch bleibt er machtlos dessen Demütigungen ausgesetzt in einer Erwachsenenwelt, die er nicht verarbeiten kann, bis er Befreiung in einer Fantasiewelt findet. Wenn er Shakespeare zitiert, nimmt man ihm eine spezifische Art von Verständnis der pompösen Texte ab. In seiner Kinderrolle vermag er weit mehr als nur zu rühren. Er gibt den entscheidenden Ausschlag und beeinflusst die Handlung nachhaltig.
Viel Raum nehmen die, bei Bergmann wesentlichen, hier aber beiläufigen Befindlichkeiten ein. Für die Auflösung bleibt wenig Zeit. Der Ausflug ins Überirdische, in eine Welt aus Fantasie, Magie und spirituellen Möglichkeiten, fällt aus Zeit und Handlung. Feuer, Gift und Tod führen schließlich zur äußerlichen Befreiung. Ein optisch spektakuläres verworrenes Getümmel aus Geistern und dem geheimnisvollen Bruder Ismael (Alois Mühlbacher mit schön durchgeistigter Countertenor-Stimme) leitet Alexander schließlich durch grausame Schrecken auch zur inneren Befreiung. Der Vater erscheint, wiederholt sein Versprechen. Im nächsten Bild sitzt die gesamte Familie ganz in Weiß glücklich an der gemeinsamen Festtafel zur Tauffeier von gleich zwei Mädchen. Großes fröhliches Dacapo des Trinkliedes „Schluck, schluck“. Es hat wohl einen Grund, dass die Autoren in diesem Moment dem jungen Vater „Tiefer Griff in Kitsch“ in den Mund legten. Vergessen. Nach drei Stunden großer Applaus für ein riesiges Ensemble mit einem überragenden Hauptdarsteller.