Von Paul Stepanek
Victor Hugos ebenso berühmtes wie ausuferndes Epos „Die Elenden“ substanziell in ein dreistündiges Musikdrama einzupacken, ist an sich bereits eine Leistung, für die dem Komponisten Claude-Michel Schönberg und den Text-Autoren Alain Boublil und Jean-Marc Natel Respekt bis Bewunderung zu zollen ist. Dazu kommt noch: Der Linzer Neu-Inszenierung des Stücks gelingt es großteils, die dramatische Wucht der vielfältig zergliederten Handlung spürbar zu machen. Nicht nur dies: Die sozial- und gesellschaftskritische Botschaft Victor Hugos kommt ebenso klar zum Ausdruck wie vor allem die humanistische des Stücks selbst. Das hochemotional sich über 17 wechselvolle Jahre hinziehende Duell zwischen dem fanatischen Polizisten Javert und dem vom Schicksal gebeutelten Ex-Sträfling Jean Valjean spiegelt deutlich: Nur das Durchbrechen des Prinzips „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ durch Güte und Verzeihen kann die Dinge zum Guten wenden.
Texte bringen Dramatik und galligen Witz ins Spiel
Doch bieten die essenziellen Bausteine des Stücks keineswegs nur ideale Voraussetzungen. Die Musik Schönbergs basiert auf einem relativ primitiven Strickmuster mit Anklängen an Leitmotive, hat aber in plakativen Gegensätzen dramatische Substanz. Die Texte (Übersetzung: Heinz Rudolf Kunze) hingegen modellieren gekonnt den Inhalt und bringen Dramatik und galligen Witz ins Spiel. Die dem Thema entsprechend meist düstere Bühne (Mathias Fischer-Dieskau), die ideenreiche Choreografie (Melissa King), die fantasievolle Ausstattung (Susanne Hubrich) und das Licht (Michael Grundner) — exzellent; die Chöre des Landestheaters leisten Großes im Singen und Spielen.
Beachtlich sind die sängerischen Leistungen
Matthias Davids inszeniert über weite Strecken straff und werkdienlich; lediglich die in Schmalz und Sentiment ertrinkenden Vor-Schluss-Szenen entgleiten ihm. Sie lösen nicht, sondern verwässern die vorher aufgebaute dramatische Wucht des Geschehens bis ins kaum Erträgliche. Die sängerischen Leistungen der zehn Protagonisten und des weitere achtzehn Rollen umfassenden Ensembles sind beachtlich, werden aber durch das bei Musicals offenbar obligate Sounddesign in Timbre und Individualität gleichsam eingeebnet.
Aber Christian Alexander Müller entwickelt als Val jean gekonnt die ihm zugedachte führende Bühnenpräsenz, Konstantin Zander als sein Gegenspieler Javert steht ihm kaum nach. Barbara Obermeier (Cosette) und Alen Hodzovic (Marius) mimen und singen tadellos das zentrale Liebespaar, an dessen Glück zwar die Rolle der Eponine, nicht aber die großartige Leistung von deren Sängerin Ariana Schirasi-Fard zerschellt. Besonders hervorzuheben: Carin Filipcic als souveräne sängerische Einspringerin für die auf der Bühne krankheitsbedingt stumm agierende Kristin Hölck (Fantine). Riccardo Greco gibt einen stürmischen Revolutionär Enjolras und der Bub Dennis Mojsilovic bietet eine tolle Leistung als Gavroche. Rob Pelzer und Daniela Dett schlüpfen brillant in die unglaublich bösartigen Karikaturen des Ehepaars Thenardier. Dirigent Kai Tietje und das bestens disponierte Bruckner Orchester (ebenfalls dem Sounddesign unterworfen) holen mehr aus der Musik heraus, als drin ist. Die wohlwollende bis begeisterte Zustimmung des Publikums legt die Empfehlung nahe: Für Fans des Musicals und Sounddesigns ein Muss.